Am 1. September ist es vorbei, ab da ist der Chef der Oesterreichischen Nationalbank (OeNB), Ewald Nowotny, Pensionist. Wer mit dem langjährigen SPÖ-Politiker über seine Sicht auf Türkis-Blau reden will, muss bis dahin warten. Jetzt stehe ihm das nicht zu, er lege Wert auf Einhaltung der "Kleiderordnung". Und was wird Nowotny ab September tun? Sein Kalender sei voll, sagt der leidenschaftliche Leser und Segler, mit Terminen für Aktivitäten mit seiner Frau und den drei Enkelkindern.


STANDARD: Sie lieben das Lesen. Ihr erstes Buch als Pensionist wird der zweite Lederstrumpf-Band?

Nowotny: Definitiv nein. Warum?

STANDARD: Weil Sie gesagt haben, Sie werden Ende August der letzte Mohikaner sein, der Letzte, der das alte Direktorium verlässt. "Der letzte Mohikaner" erschien 1826 und ist der zweite Teil von Lederstrumpf.

Nowotny: Sie werden lachen. Ich habe gerade Adalbert Stifters "Der Nachsommer" gelesen. Ein Element der Ruhe und Klarheit, allein die Geduld, die man aufbringen muss, das zu lesen, tat mir gut. Ich habe das gerade in meiner jetzigen Lebensphase sehr geschätzt.

Ewald Nowotny verlässt die Notenbank nach elf Jahren als Gouverneur.
Foto: Regine Hendrich

STANDARD: "Nach dem Sommer" klingt in dieser Lebensphase auch besser als Herbst.

Nowotny: Absolut.

STANDARD: "Die OeNB hat sich zu einem modernen Dienstleistungsunternehmen entwickelt und ist sehr gut für die Zukunft gerüstet." Stimmt diese Aussage?

Nowotny: Ja.

STANDARD: Wer hat sie getätigt?

Nowotny: Das weiß ich nicht, aber sie stimmt. Wer war es?

STANDARD: Ihr Vorgänger Klaus Liebscher bei seinem Abschied 2008.

Nowotny: Ich hatte den Vorteil, von ihm eine gut geführte Bank zu übernehmen, dafür bin ich ihm dankbar. Danach gab es natürlich eine Vielzahl von Herausforderungen. Ich hoffe, dass auch mein Nachfolger den Eindruck hat, eine gut geführte Bank zu übernehmen, und ich wünsche ihm sehr, dass die Zeiten, in denen er arbeiten muss, leichter sein werden.

STANDARD: Was war denn das Leichteste in Ihrer Ära?

Nowotny: Das Angenehmste waren meine Diskussionen mit den exzellenten Volkswirten hier: eine Mischung von Arbeit und Vergnügen für mich als Nationalökonom.

STANDARD: In Ihrem ersten STANDARD-Interview als Gouverneur sagten Sie, Sie hätten Ihren Traumjob hier gefunden. Rückblickend: War es manchmal ein Albtraum?

Nowotny: Nein, aber es gab schon große Herausforderungen.

STANDARD: Größer als die bei der Bawag, nach deren Stabilisierung Sie zur OeNB kamen?

Nowotny: Sie waren anderer Art, angenehmer. Bei der Bawag gab es einen kriminellen Hintergrund, dort wollte man mich auf Abwege führen. In der ersten Woche schon sollte ich Dinge unterschreiben, die mich Kopf und Kragen gekostet hätten. Mein Vorteil war, dass ich ein misstrauischer Mensch bin und guten Rechtsbeistand hatte. Das war eine heikle Zeit für mich, während die Herausforderungen als Gouverneur gesamtwirtschaftliche waren – und für die war ich fachlich sehr gut gerüstet.

Im Herbst 2008 krachte die Investmentbank Lehman Brothers zusammen.
Foto: imago/ZUMA Press

STANDARD: Kaum waren Sie im Amt, fiel Lehman. Sie sagten damals: "Wir haben alles im Griff." Hatte nicht die Krise alles im Griff?

Nowotny: Ja, aber Gott sei Dank wussten die Notenbanken, was zu tun ist. Es war einer der wenigen Fälle, in denen man aus der Geschichte, in dem Fall der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre, gelernt hat. Die Banken bekamen von den Notenbanken unbegrenzte Liquidität zur Verfügung gestellt, um den Zusammenbruch des Geldmarktes zu kompensieren, und man hat beschlossen, keine Bank umfallen zu lassen. Auch die Republik hat stark und entschieden reagiert, das 100-Millionen-Bankenpaket beschlossen.

STANDARD: Wie oft haben Sie gelogen, um die Sparer zu beruhigen?

Nowotny: Ich habe nie gelogen. Ich habe meine Aufgabe immer darin gesehen, ein Element der Stabilität und Ruhe zu sein. Eine Notenbank muss etwaige Hysterie durch Vernunft beseitigen.

STANDARD: Elf Jahre später ist's auch nicht leicht, oder? Heute gibt es Strafzinsen, Handelskriege ...

Nowotny: Ja, es ist auch jetzt eine schwierige Zeit: Eine Hochkonjunkturphase endet. Dazu kommen aber gesamtwirtschaftliche Spannungen, und es besteht die Gefahr eines Wirtschafts- und Währungskriegs. Ich hoffe, dass man auch da aus der Geschichte gelernt hat, sich Staaten nicht wieder abschotten und so den Welthandel zusammenbrechen lassen.

STANDARD: Was muss geschehen?

Nowotny: Die Staatenlenker müssen die internationalen Institutionen wie Währungsfonds oder Welthandelsorganisation beachten und stärken, das funktionierende Regelwerk befolgen. Wenn etwa China intellektuelles Eigentum missachtet, ist es völlig legitim, dagegen vorzugehen, aber gleichzeitig muss man die Märkte offen halten. Dass das Gegenteil passiert, ist beunruhigend. In der Krise 2007/08 wussten die Notenbanker als Geldpolitiker, was zu tun ist. Heute sind wir stärker in der Hand der Politik, damit ist die Berechenbarkeit viel geringer.

STANDARD: Der EU steht der Brexit bevor, Italien hat Riesenprobleme. Droht die nächste Krise?

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Der Brexit (hier Großbritanniens Premierminister Boris Johnson) ist in den Augen Nowotnys "historisch gefährlich".
Foto: Reuters/ G. Fuentes

Nowotny: Die politische Lage in der EU hat sich zweifellos verschlechtert, und ich befürchte, dass man, anders als 2008, nicht richtig reagieren wird. Die extrem populistische und irrationale Politik Italiens gefährdet das Zusammenleben in der EU, der Brexit wird sich unmittelbar auf Großbritannien negativ auswirken, die Effekte auf die meisten EU-Staaten werden sich in Grenzen halten. Viel beunruhigender ist die längerfristige politische Perspektive. Der Brexit, der Austritt Großbritanniens, ist ein Rückschritt in der Integration – und das ist historisch gefährlich. Ich befürchte also eine weltwirtschaftliche Krise, weil der internationale Zusammenhalt infrage steht. Und dagegen können Notenbanken wenig tun, das liegt in der Verantwortung der Politik. Kein beruhigender Gedanke.

STANDARD: Im Zusammenhang mit der Zinsentwicklung warnt Erste-Group-Chef Andreas Treichl gern davor, dass junge Menschen kein Vermögen aufbauen können, sich nicht einmal Wohnungen leisten können. Wie viele Dankesbriefe glücklicher Studenten haben Sie denn seit 2017 bekommen? Da haben Sie bei einer WU-Diskussion geraten, sie sollen Kredite für Wohnungskauf aufnehmen, weil es nie wieder so billig sein wird.

Nowotny: Diese flapsige Bemerkung war etwas zu sehr WU-inspiriert, nicht verallgemeinerbar. Ich glaube allerdings, dass es wenige Leute gibt, die sich aus dem Ertrag ihres Sparbuchs eine Wohnung kaufen können. Eine Niedrigzinsphase hat Gewinner auf der Investoren- und Verlierer auf der Sparerseite.

STANDARD: Sie haben die lockere EZB-Geldpolitik doch eher kritisiert?

Nowotny: Die Politik der niedrigen Zinssätze war richtig, aber die EZB hat sie zu lange beibehalten. Sie hat damit den Spielraum für künftige Maßnahmen reduziert. Aber insgesamt ist die Zinsentwicklung ja ein weltweiter Trend, wir haben weltweit ein Überangebot an Ersparnissen, die Nachfrage nach Investitionskapital geht wegen des technischen Fortschritts zurück. Für Computerprogramme brauche ich weniger Kapital als für den Bau eines Stahlwerks, also sinkt der Preis des Geldes, der Zins. Die Notenbanken können diese Tendenz nur variieren. Die negative Verzinsung selbst bei langen Anleihelaufzeiten in Deutschland oder Österreich hat also mit Notenbankpolitik nur begrenzt zu tun, sie liegt daran, dass Nachfrage nach sicheren Anlagen besteht, und Staaten wie Österreich und Deutschland gelten als sichere Häfen.

STANDARD: Die Negativzinsen gelten aber auch für Staatsanleihen von Spanien oder Portugal, die vor kurzem noch fast pleite waren. Was soll die EZB tun?

Nowotny: Ich bin für eine Geldpolitik des langen Atems, die EZB soll nicht hektisch reagieren und keine weiteren negativen Erwartungen auslösen. Vor allem aber muss die richtige Finanz- und Strukturpolitik gemacht werden, Geldpolitik kann nicht der einzige Akteur sein. Speziell Deutschland, aber auch Österreich müssen eine expansivere Finanzpolitik machen.

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In der Nationalbank waren (nicht nur) Spitzenposten rot-schwarz besetzt. Zuletzt hat die (Ex-)Koalitionspartei FPÖ ihre Leute geschickt.
Foto: Reuters/Foeger

STANDARD: Sie waren lange SPÖ-Nationalratsabgeordneter und der erste Sozialdemokrat an der OeNB-Spitze. Sie hatten sich die Abschaffung des Proporzes und den Abbau der sogenannten OeNB-Privilegien vorgenommen. Geschafft?

Nowotny: Ich habe mich sehr bemüht, Proporzbesetzungen abzustellen. Sicher kann ich parteipolitische Eingriffe nicht ganz ausschließen, aber grundsätzlich spielt das in der OeNB keine große Rolle mehr. Das Direktorium wird natürlich politisch besetzt, denn die OeNB ist ja eine öffentliche Institution. Bei diesen Besetzungen sollte aber jedenfalls die Qualität eine Rolle spielen.

STANDARD: Fühlen sich die Nationalbanker noch als etwas Besonderes? Beim Arbeitsgericht sind immer noch Klagen von Notenbankern anhängig, die sich gegen die gesetzliche Kürzung ihrer Bankpensionen wehren.

Nowotny: Es gibt Leute, die diese Einschnitte nicht goutieren, was menschlich nachvollziehbar ist. Die allermeisten Notenbanker aber arbeiten heute in den neuen Dienstrechten, bekommen eine ASVG-Pension. Einkommensmäßig müssen wir mit anderen Banken wettbewerbsfähig sein. Die Mitarbeiter fühlen sich eng mit der Arbeit der OeNB verbunden, sie sehen das aber als berufliche Herausforderung und nicht als Privileg.

STANDARD: Ihr Nachfolger Robert Holzmann gehört zu den Freiheitlichen, auch die anderen drei Direktoriumsmitglieder sind ÖVP- oder FPÖ-nahe. Pure Umfärbung?

Nowotny: Ich hoffe nicht. Ich gehe davon aus, dass sich mein Nachfolger dem Haus verbunden fühlt und seine Aufgaben erfüllt.

STANDARD: Wie gefällt Ihnen eigentlich der Generalrat? Sein Präsident ist Chef der Wirtschaftskammer, die auch Bankeninteressen vertritt, gegen Vizepräsidentin Barbara Kolm und Generalratsmitglied Peter Sidlo wird ermittelt, wobei natürlich die Unschuldsvermutung gilt. Zwei Sitze sind unbesetzt …

Nowotny: Der Generalrat ist eine Art Aufsichtsrat. Es steht einem Vorstand nicht zu, seinen Aufsichtsrat zu diskutieren.

Bei der von der türkis-blauen Koalitionsregierung geplanten Aufsichtsreform wäre ein FMA-Vorstandsposten weggefallen. Helmut Ettl (SPÖ) hätte gehen müssen.
Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Sehr wohl diskutiert haben Sie die geplante Aufsichtsreform. Da sprachen Sie sehr wohl von politischer Umfärbung. Laut Gesetzesentwurf von Türkis-Blau sollten die 160 in der OeNB tätigen Aufseher in die FMA übersiedeln, der dortige SPÖ-nahe Vorstand Helmut Ettl sollte per Gesetz abgeschafft werden.

Nowotny: Es geht um die Effizienz der Bankenaufsicht. Eine Notenbank ohne Information aus dem Bankensektor kann nicht funktionieren. Unser System eines institutionellen Vieraugenprinzips – Vorortprüfungen durch die Notenbank, rechtliche Beurteilung bei der FMA – ist das Effizienteste. Die in der Reform angedachte Übersiedlung der Legistik von der FMA ins Ministerium, die wäre logisch. Der Gesetzesentwurf hat jedenfalls viel Kritik ausgelöst, laut Rechnungshof entstünden noch mehr Schnittstellen. Ich hoffe, dass die Pause genützt wird, um bessere Lösungen zu finden.

STANDARD: Die Notenbanker haben massiv protestiert. Sie traten wie Robin Hood der OeNB auf, man konnte Sie kaum vom Betriebsrat unterscheiden. So schlimm?

Nowotny: Robin Hood ist ja keine unsympathische Figur, oder? Und man muss schon sehen: Finanzkrisen sind meistens aus Bankenkrisen entstanden, für die Notenbanken ist die unmittelbare Aufsicht über Banken daher essenziell wichtig. Nicht zuletzt deshalb ist ja auf europäischer Ebene die EZB mit der Bankenaufsicht betraut worden. Mir ging es darum, zu verhindern, dass die OeNB die Verantwortung tragen muss, ohne die nötigen Instrumente dafür zu haben.

STANDARD: Die Krisen von Bawag, Kommunalkredit, Hypo Alpe Adria, Volksbanken hat die OeNB nicht verhindert.

Nowotny: Viele dieser Probleme sind auch durch eine starke Deregulierung des Sektors entstanden, und dadurch, dass die Möglichkeiten der Aufsicht beschränkt waren. Rückblickend hätte man manches anders machen können, das konzediere ich. Bei Unzulänglichkeiten muss man Verbesserungen in der Notenbank vornehmen, aber man darf sie nicht ihrer Mittel berauben. Außerdem hört man auch nie von den Erfolgs-, sondern immer nur von den Problemfällen.

Ein wenig werde ihm das Mitmischen in der Notenbanker-Szene schon fehlen, sagt der Pensionist to be sinngemäß.
Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Sie gehen also in einer Zeit der Handelskriege, Strafzinsen, auf den Meeren herumirrender Flüchtlinge in Pension. Froh, mit alledem beruflich nichts mehr zu tun zu haben?

Nowotny: Ich sehe das mit gemischten Gefühlen. Ich freu mich, dass ich mehr Zeit für mich und meine Familie habe. Andererseits war ich gern mit interessanten Aufgaben beschäftigt. Und ich bedaure sehr, dass ich jetzt nicht mehr dabei sein werde, wenn die Notenbanken weltweit ihre Politik und ihre Instrumente hinterfragen und diskutieren. Das werde ich nur noch von außen beobachten.

STANDARD: Ein paar kurze Fragen möchte ich Ihnen noch stellen. Ihr größter Fehler im Berufsleben?

Nowotny: Dass ich Generaldirektor der Bawag wurde. Hätte ich gewusst, was mich da erwartet, hätte ich es nicht gemacht. Aber als ich dort war, hatte ich meine Aufgabe zu erfüllen.

STANDARD: Größte Niederlage?

Nowotny: Die Diskussion über die Aufsicht, die aus heiterem Himmel kam und in meinen Augen die Rolle der Notenbank gefährdet.

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Slowenische "First-Lady-Salami" haben die Notenbanker nicht zu Weihnachten geschenkt bekommen, jedenfalls ist nichts davon bekannt. Dafür aber Elchsalami von schwedischen Bankern.
Foto: AP/ Darko Bandic

STANDARD: Das Überraschendste? Dass Notenbanker Elchsalami geschenkt bekamen?

Nowotny: Für mich als Makroökonomen war das überhaupt nicht wichtig, sondern eine unerfreuliche Nebensache. Positiv überrascht hat mich die sehr gute Zusammenarbeit zwischen nationaler Notenbank und EZB. Da hatten wir tolle fachliche Diskussionen, und Freundschaften sind auch entstanden.

STANDARD: Das Lustigste hier in der OeNB?

Nowotny: Dass wir viel Zeit mit Fragen des guten Essens in der Messe, der OeNB-Cafeteria, verwendet haben. Aber das Essen ist halt sehr wichtig für die österreichische Seele und laut einer Umfrage unter den Notenbankern die für sie wichtigste Sozialleistung. Ich finde unsere Kinderbetreuung wichtiger – und dass wir Fernkälte ins Haus gebracht haben. (Renate Graber, 24.8.2019)