Stefan Thurner
Präsident des Complexity Science HubDer Complexity Science Hub (CSH) beschäftigt sich als unabhängiges Forschungsinstitut mit der Erforschung komplexer Systeme, um mit wissenschaftlichen Methoden zu Antworten auf die großen Herausforderungen unserer Zeit beizutragen. Was waren die konkreten Gründungsmotive im Jahr 2015, ein solches Institut in und für Österreich ins Leben zu rufen?
Als wir den Complexity Science Hub 2015 gegründet und 2016 schließlich eröffnet haben, war unser Ziel klar: Wir wollten ein Zentrum schaffen, das sich den großen Herausforderungen unserer Zeit mit den Methoden der Komplexitätsforschung widmet. Die allermeisten der Probleme, mit denen wir heute konfrontiert sind – sei es der Klimawandel, Finanzkrisen, Migration oder Pandemien – bringen komplexe Fragestellungen mit sich. Sie lassen sich nicht mit einfachen Lösungen angehen. Wir brauchen dafür einen interdisziplinären Zugang und die Fähigkeit, sinnvolles Wissen aus großen Datenmengen zu gewinnen.
Österreich hatte damals einige Einzelinitiativen in verschiedenen Disziplinen, aber es fehlte ein integrierender Ort, an dem Daten, Modelle und Expertise zusammengeführt werden. Genau diese Lücke wollten wir mit dem CSH schließen – und gleichzeitig Wien als internationalen Knotenpunkt der Komplexitätsforschung etablieren und zumindest als führendes Zentrum in Europa.
Uns war von Anfang an wichtig, dass wir die gewonnenen Erkenntnisse nicht für uns behalten, sondern sie unmittelbar der Gesellschaft zur Verfügung stellen. Denn nur dann können öffentliche Debatten auf einem höheren Niveau geführt und bessere Entscheidungen getroffen werden. Ebenso zentral ist für uns die Auseinandersetzung mit den ethischen Fragen rund um Daten und Datenschutz: Wie schützen wir Privatsphäre? Welche Daten dürfen wir überhaupt verwenden? Ohne extrem verantwortungsvollen Umgang mit Daten ist Forschung bei uns heute nicht mehr vorstellbar.
Beschreiben Sie das institutionelle Alleinstellungsmerkmal, das der CSH im Vergleich zu Schwesterinstituten auf dem Gebiet der anwendungsorientierten Wirtschaftsforschung aufweist?
Das Besondere am Complexity Science Hub ist unser Fokus auf systemisches Verständnis, also das Verständnis ganzer Systeme und nicht der Einzelteile. Während viele Institutionen in der Wirtschaftsforschung auf spezifische klassische ökonomische Modelle setzen, die den einen oder anderen Teil der Wirtschaft modellieren, gehen wir einen Schritt weiter: Wir arbeiten datengetrieben und multidisziplinär, um Wechselwirkungen in komplexen Systemen sichtbar zu machen – und das in Echtzeit, wo möglich. Unser Alleinstellungsmerkmal ist genau dieser Zugang: Wir kombinieren Methoden aus Physik, Mathematik, Informatik, Sozialwissenschaften und Wirtschaftswissenschaften, um dynamische Systeme und ihre Risiken zu verstehen. Damit schließen wir eine Lücke zwischen Grundlagenforschung und konkreter Anwendung und liefern Werkzeuge, die Entscheidungsträger:innen unterstützen können. Für unsere Arbeiten in den Wirtschaftswissenschaften bedeutet das, dass wir den Fokus auf Modelle legen, die die Wirtschaft in möglichst vielen – idealerweise allen – Dimensionen abbilden: Lieferketten, Finanzierungen, Arbeitsmarkt, alles gesamtheitlich gesehen – und vor allem datenbasiert.
Das Tätigkeitsprofil des CSH orientiert sich stark in Richtung Kooperations- und Netzwerkaufbau in Wissenschaft und Wirtschaft. Wer sind die wichtigsten nationalen sowie internationalen Kooperationspartner:innen im Bereich der Wirtschaftsforschung?
Komplexitätsforschung lebt von Kooperationen. National arbeiten wir eng mit Partner:innen zusammen, die wie die OeNB über Daten und Expertise verfügen. Dazu zählen unsere Mitglieder (neun Universitäten, das AIT und die WKO), zahlreiche Bundesministerien und Agenturen, darunter auch die FMA. Ebenso kooperieren wir mit Unternehmen wie der voestalpine oder den ÖBB, um Fragestellungen etwa zu Lieferketten, Resilienz oder Mobilität zu untersuchen. Diese Firmen bringen das praktische Wissen und die Erfahrung in ihren jeweiligen Bereichen mit, die es braucht, um die richtigen wissenschaftlichen Ansätze überhaupt erst entwickeln zu können. International kooperieren wir mit wissenschaftlichen Einrichtungen wie dem Santa Fe Institute, dem Harvard Growth Lab oder dem INET an der Oxford Universität, aber auch mit Institutionen wie der OECD oder der Weltbank.
Die Zusammenarbeit mit der OeNB ist für uns in diesem Netzwerk zentral, weil sie uns ermöglicht, gemeinsam an Fragestellungen zu arbeiten, die für Österreichs Wirtschaft und Finanzmarkt besonders wichtig sind.
Die OeNB fördert den CSH seit dem Jahr 2022 im Rahmen einer Basisfinanzierung. Inwieweit unterstützt der Förderbetrag der OeNB den CSH bei der Intensivierung seiner zunehmenden Wirtschaftsorientierung?
Die Unterstützung der OeNB hat für den CSH eine große Bedeutung. Sie ermöglicht uns, wirtschaftsbezogene Forschungsthemen nicht nur punktuell, sondern strategisch und langfristig auf- und auszubauen. Dadurch konnten wir neue Projekte starten, etwa zur Analyse von Zahlungsströmen oder zur Modellierung von Unternehmensnetzwerken und Kryptowährungen, und gezielt Expert:innen aus der ökonomischen Komplexitätsforschung ins Team holen. Diese Verstärkung hilft uns, fundierte Analysen zu entwickeln, die einen echten Mehrwert für die wirtschaftspolitische Entscheidungsfindung bieten.
In welche strategische Richtung soll sich die Wirtschaftsorientierung mittelfrist- bzw. langfristig weiterentwickeln?
Mittelfristig möchten wir den CSH als zentrale Anlaufstelle in Österreich etablieren, wenn es um datenbasierte Analysen komplexer wirtschaftlicher Zusammenhänge geht. Wir wollen ein verlässlicher Partner sein, der mit neuen Methoden hilft, Risiken frühzeitig zu erkennen, Zusammenhänge zu verstehen und robuste Strategien zu entwickeln. Langfristig wollen wir unsere Modelle auch international einsetzen, um Österreich als führenden Standort für angewandte Komplexitätsforschung in der Wirtschaft zu positionieren.
Aktuell wird ja gemeinsam mit volkswirtschaftlichen Expert:innen der OeNB an einzelnen Projekten gearbeitet. Können Sie die inhaltlichen Schwerpunkte dieser Kooperationen beschreiben?
Die Zusammenarbeit mit der OeNB findet unter anderem im Bereich der Entwicklung methodischer Ansätze zur systematischen, zuverlässigen und automatisierten Bewertung der Solvenz von Kryptowährungsbörsen statt. Auch untersuchen wir gemeinsam die Durchdringung des österreichischen Finanzmarktes durch Stablecoins. Wir haben uns hier unter anderem besonders gefreut, 2024 die Advances in Financial Technologies-Konferenz (AFT24) zu veranstalten, die in der OeNB stattfand.
Das Thema Künstliche Intelligenz (KI) und deren mögliche Konsequenzen auf Wirtschaft und Arbeitsmarkt ist ein weiterer Schwerpunkt. Dazu werden wir auch im Juni ein gemeinsames Symposium zum Thema "How can Europe benefit from transformative AIs" veranstalten.
Der CSH sieht sich als Forschungsinstitution mit starker Anwendungsorientierung. In welchen Bereichen/Formaten bringt der CSH seine Expertise (bereits) in den wirtschaftspolitischen Diskurs oder bei der Formulierung von Politikempfehlungen ein?
Wir verstehen uns als Forschungsinstitut, das Grundlagenforschung macht. Punkt. Aber wir machen etwas, das heute aus der Mode gekommen zu sein scheint: Wir wollen mit unserer Forschung Probleme lösen, relevante Probleme. Und das lässt uns vor allem anwendungsorientiert erscheinen. Ich sehe es genau andersherum: aus dem Verständnis von Grundlagen und aus dem Entwickeln von neuen Methoden können wir erst Anwendungen erfolgreich schaffen. Wir haben keine Berührungsängste, die man manchmal in der Wissenschaft spürt. Ja, wir arbeiten eng mit staatlichen Institutionen zusammen, um wissenschaftliche Erkenntnisse in die Politikgestaltung einfließen zu lassen, um Entscheidungen zum Gemeinwohl besser treffen zu können. Dies geschieht beispielsweise im Rahmen von konkreteren gemeinsamen Projekten mit Beteiligung von Ministerien, wo wir gemeinsam nach Lösungen suchen.
Zudem veröffentlicht der CSH Policy Briefs, die aktuelle Forschungsergebnisse zusammenfassen und konkrete Handlungsoptionen für die Politik aufzeigen. Um ein Beispiel zu nennen: Es wurde ein Policy Brief zur Abhängigkeit der österreichischen Wirtschaft von Erdgas veröffentlicht, der die potenziellen Auswirkungen eines russischen Erdgas-Lieferstopps analysierte.
Wir beteiligen uns ebenso aktiv an öffentlichen Veranstaltungen, um komplexe wirtschaftliche Themen zu diskutieren.
Wie gelingt es dem CSH seine komplexen Arbeitsweisen sowie die daraus resultierende Forschungsergebnisse einem breiteren Adressat:innenbereich allgemeinverständlich zu machen?
Dass unsere Themen komplex sind, liegt in der Natur der Sache. Trotzdem (oder genau deshalb) legen wir großen Wert darauf, unsere Ergebnisse verständlich aufzubereiten – auch für Entscheidungsträger:innen, die mitunter keine Spezialist:innen in der Modellierung komplexer Systeme sind. Dafür setzen wir unter anderem auf interaktive Visualisierungen, klare Kommunikation und regelmäßigen Austausch mit Vermittler:innen.
Auch tun wir unser Bestes, um Inhalte in verschiedenen Erzählweisen aufzubereiten, sodass möglichst viele Menschen nachvollziehen können, was wir tun, und idealerweise ihr Interesse und ihre Neugierde geweckt wird. Das reicht von aktiver Medienarbeit bis hin zu Events wie der Langen Nacht der Forschung, Schulbesuchen und interaktiven Quizzes für Schüler:innen, die wir basierend auf unseren Visualisierungen so gestalten, dass Lehrer:innen sie jederzeit und unkompliziert im Unterricht einsetzen können.
Der CSH legt einen großen Schwerpunkt bei der Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Wie werden junge Wissenschafter:innen in den laufenden Forschungsbetrieb im CSH eingebunden?
Nachwuchsförderung ist für den CSH ein zentrales Anliegen. Junge Forschende arbeiten bei uns vom ersten Tag an in wissenschaftlichen Projekten mit – Stichwort: hands-on und learning while doing – oft auch in Kooperation mit Partner:innen. Ein zentrales Element unserer Nachwuchsförderung ist die CSH Digital Innovation School, die mit Unterstützung des Bundes (BMK, BMBWF und dem Bundeskanzleramt) ins Leben gerufen wurde. In zwei Programmen – einem PhD- und einem Postdoc-Programm – bilden wir die nächste Generation von Expert:innen aus, die über die digitalen Skills verfügen, um Transformationen im Zeitalter von KI und Digitalisierung voranzutreiben.
Dabei geht es nicht nur um exzellente Forschung, sondern auch darum, die Schnittstellen von Forschung zu Politik, Verwaltung und Wirtschaft zu praktizieren und zu üben, gegenseitiges Interesse zu schaffen und Vertrauen durch gegenseitiges Verständnis aufzubauen. Unsere Nachwuchsforscher:innen arbeiten an aktuellen Herausforderungen und setzen ihr Wissen direkt in realen Anwendungen um. Durch diese Kombination aus wissenschaftlicher Expertise, praktischer Anwendung und enger Zusammenarbeit mit Akteur:innen wie der OeNB bauen wir langfristig Kompetenzen auf, die der gesamten Wirtschaft und Forschung in Österreich zugutekommen.
Für uns ist klar: Wer die komplexen Herausforderungen von morgen verstehen will, muss heute die besten Köpfe dafür gewinnen, fördern und ihnen auch die Möglichkeit geben, an Lösungen für reale Fragestellungen zu arbeiten. Diese Lösungen müssen dann auch sichtbar sein, gesehen werden und sich einem Wettbewerb stellen. Und allein geht das nie – es braucht ein starkes Netz an Partner:innen.