Gouverneur Nowotny – Interview mit der Süddeutschen Zeitung

16. Juni 2014, Wien

Süddeutsche Zeitung: Herr Nowotny, alle Welt schaut nun nach Brasilien zur Fußballweltmeisterschaft. Tun Sie das auch?

Ewald Nowotny: Da ich niemand bin, der auf Popularität angewiesen ist, kann ich ganz ehrlich antworten: Die Fußball-WM lässt mich völlig kalt.

Süddeutsche Zeitung: Der Genugtuung von Cordoba 1978 – damals warf Österreich Deutschland aus der Weltmeisterschaft in Argentinien raus – daran erinnern Sie sich aber?

Nowotny: Ja, sicher. Das habe ich abgespeichert, aber ich interessiere mich mehr für kulturelle Dinge. Und da hat Österreich ja auch mehr zu bieten als im Fußball.

Süddeutsche Zeitung: Die Freude im Fußball, ein großes Land wie Deutschland zu schlagen, rührt ja auch daher, dass die kleinen Länder denken, die Großen hielten sich für wichtiger. Ist das in der Eurozone auch so?

Nowotny: Ich bin als Ökonom völliger Realist. Natürlich ist ein großes Land wichtiger als ein kleines. Aber das heißt ja nicht, dass ein kleineres Land nicht alle Chancen nutzen soll. Die Schweiz ist für mich ein gutes Beispiel dafür, wie man als kleines Land für eine Bevölkerung einen guten Lebensstandard und gute Perspektiven bieten kann. Genau darum sollte es auch Österreich gehen.

Süddeutsche Zeitung: Das sagen sie jetzt aber nicht, weil die Schweiz keinen Euro hat?

Nowotny: Nein, aber ich stehe solchen Österreichern, die immer noch ein bisschen in Nostalgie nach Großmacht schwelgen, sehr skeptisch gegenüber.

Süddeutsche Zeitung: Die Bundesbank und die EZB haben ein besonderes Verhältnis, seit die Bundesbank sehr offensiv gegen die Staatsanleihekäufe vorgegangen ist. Ist eine Situation denkbar, in der auch die OeNB so offensiv ihre Meinung vertreten würde?

Nowotny: Im Rahmen des EZB-Rates haben alle Gouverneure die Verpflichtung, die europäischen Interessen zu vertreten. Selbstverständlich nehme ich diese Aufgabe sehr ernst.

Süddeutsche Zeitung: Sie fühlen sich im EZB-Rat nicht als kleiner Notenbanker?

Nowotny: Wir sitzen im Rat nicht als Vertreter der Einzelstaaten, sondern als Europäer. Wir haben alle die gleichen Verpflichtungen.

Süddeutsche Zeitung: Und Rechte?

Nowotny: Ja, wenn ich auch weiß, dass Deutschland die größte Volkswirtschaft in Europa ist. Das muss man anerkennen. Das führt aber auch zu einer besonderen Verantwortung der deutschen Instanzen. Denn es liegt auch im Interesse Deutschlands, in Europa gut eingebettet zu sein und auch für Stabilität in ganz Europa zu sorgen. Aus dieser Situation des aufgeklärten Eigeninteresses finden wir im EZB-Rat auch immer zu guten Entscheidungen.

Süddeutsche Zeitung: So wie Anfang Juni. Da hat die EZB einstimmig eine historische Entscheidung getroffen. Leitzins auf 0,15 Prozent, Strafzins für Bankeinlagen. Sie gilt deshalb in Deutschland als die Institution, die den Rentnern das letzte Hemd nimmt.

Nowotny: Es geht nicht um das letzte Hemd. Soweit ich weiß leben deutsche Rentner nicht von ihren Sparbüchern. Das Ganze ist in der praktischen Bedeutung weit übertrieben, denn die Sparer können ihr Geld auch woanders zu höheren Zinsen anlegen.

Süddeutsche Zeitung: Die Deutschen übertreiben mal wieder?

Nowotny: Natürlich können niedrige Zinsen keinen Normalfall darstellen. Das ist uns allen in der EZB bewusst. Es ist einfach eine besondere Situation. Die Inflation ist deutlich unter dem Ziel von zwei Prozent und außerdem leiden wir unter den geringen Wachstumsraten im Euroraum. Deutschland hat höheres Wachstum, doch auch nicht-südliche Staaten wie Finnland und die Niederlande stagnieren. Es ist im gesamteuropäischen Interesse, dass Voraussetzungen für stärkeres Wachstum geschaffen werden. Man darf das nicht durch die Brille eines Landes betrachten.

Süddeutsche Zeitung: Aber die EZB kann Wachstum doch nicht verordnen.

Nowotny: Die Möglichkeiten der Geldpolitik sind beschränkt. Wir können nur die Voraussetzungen schaffen. Die Politik muss wirtschaftspolitische Reformen umsetzen, letztlich geht es um das Verhalten von Investoren und Konsumenten.

Süddeutsche Zeitung: Das fordert die EZB doch seit Jahren. Nervt es nicht, dass politisch so wenig passiert?

Nowotny: Im Augenblick ist vieles zusammengekommen, was kurzfristig in einem gewissen Widerspruch steht. So prüft die EZB gerade die Bilanzqualität der großen europäischen Banken. Deshalb haben Banken ihre Risiken abgebaut. Das ist richtig, kann aber auch dazu führen, dass sie weniger Kredit vergeben. Und das hemmt Wachstum. Deswegen wollen wir seitens der EZB, dass sie wieder stärker Kredite vergeben.

Süddeutsche Zeitung: Die EZB bekämpft sich also selbst. Was sie auf der Bankenaufsichtsseite macht, konterkariert sie auf der geldpolitischen Ebene.

Nowotny: Kurzfristig kann es hier Spannungen geben. Wobei man sagen muss, dass jede Maßnahme für sich genommen richtig ist. Die EZB muss einen klaren Kurs beibehalten.

Süddeutsche Zeitung: Ein Kurs, der schwer zu vermitteln ist. Inflation galt immer als etwas, das bekämpft wird. Nun hat es sich die EZB zum Ziel gesetzt. Das ist erklärungsbedürftig.

Nowotny: Die EZB will nicht Inflation, so wie wir es im deutschen Sprachgebrauch verwenden, sondern Preisstabilität. Im Englischen ist es kein vorbelasteter Begriff. In Deutschland kommt sofort die Erinnerung an Hyperinflation auf. Die EZB definiert Preisstabilität über einen Anstieg der Verbraucherpreise von knapp zwei Prozent. Eine Volkswirtschaft braucht einen solchen Teuerungs-Puffer, weil es sonst schnell zu Deflation kommen könnte.

Süddeutsche Zeitung: Viele Deutsche drücken ihr Unbehagen dadurch aus, dass sie an die gute alte D-Mark denken. Wie vernarrt sind die Österreicher noch in den Schilling? Am Eingang stand ein Schild, das auf den Umtausch von Schilling in Euro hinweist.

Nowotny: Es gibt keine Schilling-Nostalgie. Dieses Schild steht nur da, weil es doch sehr viele Fälle gibt, in denen Menschen beim Ausräumen der Wohnung ihrer verstorbenen Großeltern noch große Schachteln mit Schilling finden. Das hat also mehr folkloristische Hintergründe. Die Österreicher stehen hinter dem Euro.

Süddeutsche Zeitung: Woher kommt dann die Kritik an der Niedrigzinspolitik?

Nowotny: Die Menschen sitzen einer Illusion auf. Sie bekamen zwar früher höhere Einlagenzinsen, aber die Inflationsraten waren viel höher. Wir haben das für Österreich mal historisch durchgerechnet. Seit 1949 gab es in der Hälfte aller Quartale negative Realzinsen. Die Leute bekamen beispielsweise drei Prozent Zins, die Inflation lag aber bei fünf Prozent. Das bedeutet, dass sie Geld verloren haben, wenn sie es nur am Sparbuch liegen ließen. Das, was wir heute sehen, ist also nichts Neues. Es ist durch den niedrigen Leitzins nur sichtbarer geworden.

Süddeutsche Zeitung: Um die Wirtschaft anzukurbeln, hat die EZB nicht mehr viel Spielraum. Als nächsten Schritt könnte sie  Staatsanleihen kaufen, wird spekuliert.

Nowotny: Ich finde das sehr eigenartig. Wir haben zuletzt erst einen tiefgreifenden Beschluss gefasst, dessen Umsetzung gar nicht so einfach ist, und schon werden die nächsten Dinge diskutiert. Wir sollten dem jetzt eine Chance geben.

Süddeutsche Zeitung: Die EZB macht jetzt erst einmal nichts mehr?

Nowotny: Die EZB wird sich nicht vom Diktat der Märkte führen lassen. Es ist nicht sinnvoll, irgendwelche Phantomdiskussionen zu führen.

Süddeutsche Zeitung: Dann lassen Sie uns über eine andere Spekulation sprechen, die Finanzmärkte bewegt: Wie viele Institute werden beim Bankenstresstest durchfallen, den die EZB gerade durchführt?

Nowotny: Der Test wird sehr streng, vielleicht sogar zu streng. Meine Befürchtung ist, dass die EZB in dem Ehrgeiz es besonders gut machen zu wollen, sehr weit über das hinausgeht, was die USA gemacht haben. Das kann zu Übertreibungen führen. Aus den internen Diskussionen sehe ich, dass die EZB bei Ermessensentscheidungen grundsätzlich die schärferen Regeln anwendet. Vor allem geht es dabei um die Bewertung der Risiken in den Bilanzen.

Süddeutsche Zeitung: Haben Sie Angst um die österreichischen Banken?

Nowotny: Nein, da gibt es keine Wackelkandidaten.

Süddeutsche Zeitung: Der Problembank Hypo Alpe Adria wurden ja schon im Vorfeld der Hahn abgedreht. Österreich hat soeben per Gesetz die staatlichen Garantien für Gläubiger der Hypo Alpe Adria Bank gekippt. Ein solcher Schuldenschnitt erinnert an Griechenland und Zypern. Haben Sie keine Sorge, dass das den österreichischen Finanzsektor destabilisiert?

Nowotny: Das sehe ich nicht. Die prinzipielle Bereitschaft Österreichs, zu Garantien zu stehen, ist nicht in Frage gestellt. Es gilt auch weiterhin, dass von Seiten der österreichischen Regierung eine Insolvenz der Hypo Alpe Adria ausgeschlossen wird, eine Position die von der Oesterreichischen Nationalbank aus guten Gründen voll unterstützt wird. Der Schuldenschnitt bezieht sich nur auf einen sehr kleinen, speziellen Teil der Gläubiger.

Süddeutsche Zeitung: Ist es nicht eher ein Vertrauensverlust? Was ist eine österreichische Staatsgarantie noch wert, wenn man sie ganz einfach per Gesetz aushebeln kann?

Nowotny: In dem Gesetz geht es um ein relativ kleines Volumen von 1,7 Mrd Euro, betroffen sind nur Nachranganleihen von rund 890 Mio Euro sowie Gesellschafterverbindlichkeiten gegenüber der Bayern LB, die nach dem ersten Zuschuss von staatlichem Kapital gewährt wurden, also ein ganz speziell abgegrenzter Bereich. Diese Die Gläubiger wussten von Anfang an, dass sie ein höheres Risiko eingehen, wofür sie durch höhere Zinsen entschädigt wurden. Der damalige Eigentümer BLB müsste zudem bei der Kreditgewährung eigentlich über die Risikosituation bei der Hypo Alpe Adria informiert gewesen sein.

Süddeutsche Zeitung: Das Beispiel könnte Schule machen.

Nowotny: Die Hype Alpe Adria ist eine kleine Bank und sie ist nicht typisch für den österreichischen Bankensektor, sondern vielmehr ein Sonderfall, verursacht durch massive politische Einflussnahme von Kärnten unter Jörg Haider. Die Grundkonstellation ist eher vergleichbar mit anderen Landesbanken in Deutschland, wo Landesgarantien zu zu hoher Risikobereitschaft führten.

Süddeutsche Zeitung: Es wird Rechtsstreitigkeiten geben, die BayernLB und andere Banken haben Klagen bereits angekündigt.

Nowotny: Ja, das ist möglich, die rechtliche Bewertung liegt aber nicht in der Kompetenz der Oesterreichischen Nationalbank.

Süddeutsche Zeitung: Warum hat Österreich nicht viel früher eine Bad Bank gegründet – wie die USA oder Deutschland?

Nowotny: Die OeNB hat unmittelbar  nach der Verstaatlichung die Gründung einer Bad Bank vorgeschlagen. Aber das war politisch nicht erwünscht. Jetzt wird der Südosteuropateil verkauft, der Rest wird über die Bad Bank abgewickelt.

Süddeutsche Zeitung: Sie waren selbst einmal Chef einer Bank in der Krise, der Bawag. Wie blicken Sie auf diese Zeit zurück?

Nowotny: Das waren zwei sehr schwierige Jahre, vielleicht sogar die schwierigsten meiner Karriere. Meine Aufgabe war es, die Bank aus einer tiefen Krise zu führen. Der öffentliche Druck war enorm hoch.

Süddeutsche Zeitung: Und dann dachten Sie, als Notenbanker wird es ruhiger. Doch dann kam die Eurokrise – und es war vorbei mit der Ruhe.

Nowotny: In der Tat. Dass man als Notenbankchef so sehr in der Öffentlichkeit steht, ist für mich ein Krisensymptom. In guten Zeiten sollten Notenbanker ganz nüchterne Geldmanager sein und für Preisstabilität sorgen.

Süddeutsche Zeitung: Seit der Eurokrise umgibt Notenbanker eine Aura der Macht, immerhin haben sie gehandelt, als die Politik wie paralysiert wirkte.

Nowotny: Die Aura der Macht ist gefährlich. Notenbanker sind nicht allmächtig, auch unsere Möglichkeiten sind begrenzt. In den Entscheidungsgremien der EZB habe ich ein Ausmaß von Rationalität erlebt, das ich aus anderen Bereichen, in denen ich tätig war, nicht so kannte.

Süddeutsche Zeitung: Meinen sie jetzt den Bereich Banken oder Politik? Sie kennen beide…

Nowotny: Dazu sag ich nichts (lacht). Aber als rationaler Mensch fühle ich mich in der Notenbank sehr wohl. Es ist doch ein großer Unterschied, wenn man auf einer rationalen Basis argumentieren kann und nicht unter dem Druck von Wahlterminen und Meinungsumfragen steht. Wobei meine „Macht“ natürlich auch nur geborgt ist.

Süddeutsche Zeitung: Eine EZB-Ratssitzung muss man sich also als volkswirtschaftliches Oberseminar vorstellen?

Nowotny: Nicht ganz, denn wir müssen ja auch zu Resultaten kommen. Aber mehr als 50 Prozent der Mitglieder im EZB-Rat haben einen akademischen Hintergrund, auch Präsident Mario Draghi. Man kann also über die Sache reden, anspruchsvoll und verantwortungsvoll. Daher herrscht dort eine  Diskussionstiefe, die ich keinem anderen Gremium je erlebt habe. Und ich habe viele Gremien erlebt.

Süddeutsche Zeitung: Es gibt Gerüchte, dass Sie zum Jahresende in Pension gehen könnten. Stimmt das?

Nowotny: Nein, sicher nicht. Ich sehe meine Aufgabe als eine sehr schöne Aufgabe an und sehe daher keine Veranlassung früher zu gehen.

Süddeutsche Zeitung: Sie waren in ihrer bisherigen Karriere Professor, Politiker, Bankchef und Notenbanker. Gab es jemals ein Cordoba-Erlebnis, sprich, eines, das sie niemals vergessen?

Nowotny: Als Nationalrat habe ich im Jahr 1994 bei der Volksabstimmung sehr für den EU-Beitritt Österreichs gekämpft. Vor allem in Oberösterreich, wo die Menschen sehr skeptisch waren. Da hat sich kaum ein EU-Anhänger hinein getraut, und genau dort war ich massiv im Einsatz. Als dann in der Abstimmung eine große Mehrheit für Europa gestimmt hat, war das ein großartiger Erfolg.