Gouverneur Nowotny – Gastbeitrag in der Süddeutschen Zeitung

16.09.2015

Die Menschen sind nicht bereit für eine "Neugründung Europas". Erfolgsversprechender ist es, die Union im Rahmen der europäischen Verträge zu entwickeln.

Es ist leider zu beobachten: Der lebenskluge politische Philosoph, Sir Karl Popper, der gerade in Deutschland wesentlich den Diskurs der 70er und 80er Jahre prägte, ist etwas aus der Mode gekommen. Und damit auch seine Empfehlung, eher auf vorsichtige, im Notfall auch wieder korrigierbare, Einzelschritte und auf "piecemeal-approach" zu setzen, als auf den dramatischen "großen Wurf". Das zeigt sich derzeit ganz grundlegend im Bereich der Gestaltung der europäischen Integration und im speziellen der europäischen Währungspolitik.

Während die führenden Köpfe der europäischen Integrationspolitik in ihrem "Fünf-Präsidenten-Report" klugerweise zwischen Reformen unterscheiden, die im Rahmen der jetzigen Rechtsgrundlagen möglich sind, und jenen Reformen, die Vertragsänderungen erfordern, mehren sich alarmistische Stimmen zur Zukunft der EU und speziell zur Währungsunion. Das klingt dann so dramatisch, wie die vom französischen Wirtschaftsminister in dieser Zeitung ausgegebene EU-Perspektive "Neugründer oder Totengräber" oder ruhiger mit Forderungen nach einer europäischen "Wirtschaftsregierung" oder einem "europäischen Finanzminister".

Nun ist es natürlich richtig, dass eine Währungsunion stabiler und effizienter ist, wenn man sie "als Krone" auf einer politischen Union und im speziellen einer gemeinsamen Finanzpolitik aufsetzen kann. Das wurde bei der Diskussion um die Konzipierung der Europäische Wirtschafts- und Währungsunion (EWWU) - ausgehend vom Beispiel der deutschen Reichseinigung im 19. Jahrhundert - ja auch von den Vertretern der entsprechenden "Krönungstheorie" vertreten. Ebenso gilt freilich, dass ein einheitlicher europäischer Binnenmarkt der Ergänzung durch eine möglichst umfassende einheitliche Währung bedarf. Und es gilt, dass als zweitbeste, aber praktikable Lösung das Vertragswerk rund um den Wachstums- und Stabilitätspakt finanzpolitischen Flankenschutz gibt.

Zu Beginn der Währungsunion gab es in der Tat Fehlentwicklungen. Insbesondere in einzelnen südlichen Mitgliedsstaaten hat das niedrigere Zinsniveau zu exzessiver privater und/oder öffentlicher Verschuldung geführt. Auf die entsprechenden Warnsignale, speziell massive Leistungsbilanz- und Budgetdefizite, wurde von der nationalen, wie auch von der europäischen Wirtschaftspolitik zu spät reagiert. Verbunden mit der weltweiten Finanzkrise ab 2007 hat dies zu teils dramatischen Entwicklungen geführt, die auch heute noch vielfach die Politik des Euro-Raumes bestimmen. Man sollte aber nicht übersehen, dass sich aus dieser Krisenlage auch eine Reihe von Instrumenten auf europäischer Ebene entwickelt hat, die sowohl in Bezug auf Prävention, wie in Bezug auf Krisenintervention erhebliche Fortschritte bedeuten.

Eine konsequente, aber auch gesamtwirtschaftlich verantwortungsbewusste Anwendung dieser neu entwickelten Instrumente, unter Umständen auch verbunden mit einem stärkeren Einsatz marktwirtschaftlicher Sanktionsformen, ergibt eine durchaus intakte Zukunftsperspektive für die europäische Währungsunion. Die Fundamentalperspektive einer massiven strukturellen Änderung des europäischen institutionellen Rahmens ist wohl ein interessanter Ansatz für die Diskussion langfristiger Entwicklungen, als Beitrag zur aktuellen politischen Debatte halte ich die Argumentation "Wiedergeburt oder Tod" dagegen für extrem gefährlich.

Die Chancen für einen "großen Wurf sind sehr gering - leider

Denn hinter dieser Argumentation steht stets die Notwendigkeit einer umfassenden Änderung der europäischen Verträge. Verträge sind änderbar und es ist auch Aufgabe der Politik, falls erforderlich, eine entsprechend breite gesellschaftliche Diskussionen einzuleiten. Dass aber die Menschen in Europa schon bereit sind zu einer "Neugründung Europas", zum "großen Wurf", wie Minister Macron in dieser Zeitung meinte, ist eine spannende intellektuelle Hypothese, wohl aber nicht eine fundierte empirische Analyse. In einer Zeit, wo nicht einmal eindeutig ist, wer die Mitglieder der EU in zwei Jahren sein werden und wo jeder Einzelstaat die Möglichkeit hat, Vertragsänderungen zu blockieren, ist die Wahrscheinlichkeit, in absehbarer Zeit massive Vertragsänderungen zu erreichen - leider - als sehr gering anzusehen.

In dieser Konstellation ist dann die Argumentation "Wiedergeburt oder Tod" unmittelbar mit der Gefahr verbunden, dass aus der Unmöglichkeit massiver Vertragsänderung der Schluss gezogen wird, den "Tod", das heißt Auflösungstendenzen von EU und Währungsunion abzuleiten. Vorschläge, die auf unrealistischen Bedingungen aufbauen, sind kein konstruktiver Beitrag für die künftige Entwicklung Europas, sondern können die politischen und wirtschaftlichen Erwartungen über weitere Entwicklungen sogar negativ beeinflussen. Dabei ist eine solche Sicht nicht nur politisch und psychologisch gefährlich, sie ist auch sachlich nicht gerechtfertigt.

Denn bei all ihren viel diskutierten Schwächen hat sich meines Erachtens die Europäische Währungsunion bereits in diesen ersten 16 Jahren ihrer Existenz in vielfacher Weise bewährt: Ohne EWWU hätte sich die 2007 einsetzende weltweite Wirtschaftskrise für Europa wesentlich dramatischer ausgewirkt. Das gilt für die Mitgliedsstaaten der EWWU, wie auch für die EU-Staaten außerhalb der Währungsunion, die vielfach als "Trittbrett-Fahrer" mitprofitieren konnten. Keine nationale Notenbank hätte bei nicht funktionierenden Geld- und Kapitalmärkten und hoher Volatilität so rasch und massiv mit zusätzlicher Liquidität reagieren können, wie es die Europäische Zentralbank (EZB) tat, die mögliche Liquiditätsabflüsse wesentlich weniger befürchten muss. Die EZB konnte als im Weltmaßstab große Notenbank am Netzwerk der führenden Notenbanken mitwirken, durch das potenziell tödliche Liquiditätsengpässe in bestimmten Währungen verhindert werden können.

Statt apokalyptische Perspektiven aufzuzeigen, sollten kleine Schritte geplant werden

Auf der EU-Ebene wurden mit dem Euro-Rettungsschirm ESM und seinen Vorgängern Instrumente für eine solidarische Krisenbewältigung entwickelt, die wesentliche Fortschritte darstellen. Die Anwendung dieser Instrumente mag umstritten sein, aber auch hier zeigen sich schrittweise Entwicklungen, wenn etwa Spanien - zu Recht - als Erfolg der Sanierungspolitik gesehen wird, ohne auf einen überstürzten Abbau seines Budgetdefizits von 4,5 Prozent zu drängen. Mit der substanziellen Stärkung der wirtschaftspolitischen Steuerung in der EU in den vergangenen Jahren sowie der Schaffung einer einheitlichen Bankaufsicht für den Euro-Raum wurden weitere wichtige Fortschritte in Richtung einer umfassenden Wirtschafts- und Finanzmarktunion erreicht. Statt apokalyptische Perspektiven aufzustellen ist es sinnvoller und erfolgsversprechender, am schrittweisen Ausbau der wirtschaftspolitischen Instrumente im Rahmen der gegebenen rechtlichen Voraussetzungen zu arbeiten und bereits gefasste Beschlüsse - etwa zum "Juncker-Investitionsprogramm EFSI" - konsequent umzusetzen.

Zweifellos besteht für die EU, wie für jede Institution, die Notwendigkeit, über langfristige Perspektiven im politischen und wirtschaftlichen Umfeld nachzudenken. Und gerade für die historisch gesehen junge europäische Union geht es auch um die Entwicklung von emotionsbezogenen "großen Erzählungen". In vielen Staaten sind diese emotionalen Erzählungen aus gemeinsam erlittenen Katastrophen oder aus dem Zusammenschluss gegen gemeinsame Feinde entstanden.

Es ist zu hoffen, dass sich für Europa dieser emotionale Zusammenhalt künftig aus positiven und nicht aus negativen Anlässen erreichen lässt. Umso wichtiger erscheint mir, diese langfristig angelegte Entwicklung auf einem evolutionären und demokratischen Konzept des schrittweisen Fortschritts zu gründen und nicht technokratische Konzepte als Schicksalsentscheidungen zu lancieren.