Stranger Flows – wenn Geopolitik Kapitalwege neu ordnet
30.04.2025Christian Alexander Belabed, Katharina Riha
Geopolitische Spannungen und Konflikte prägen aktuell nicht nur die Nachrichtenlage, sondern zunehmend auch die wirtschaftspolitische Diskussion. Internationale Organisationen wie der IWF (2024), die OECD (2025) oder die UNCTAD (2024) analysieren regelmäßig deren Auswirkungen auf Handel und Kapitalflüsse. Auch für Zentralbanken gewinnt das Thema an Relevanz (EZB, 2021, 2024). Dieser Beitrag beleuchtet, wie sich grenzüberschreitende Direktinvestitionen (Foreign Direct Investments, FDI) durch geopolitische Spannungen verändern.
Dazu nutzen wir Daten aus der fDi Markets-Datenbank, die neue Direktinvestitionen in neue Produktionsanlagen – sogenannte Greenfield-FDI – erfasst.1 Sie werden deshalb als Greenfield bezeichnet, weil es sich um neue Investitionen, praktisch auf der grünen Wiese entstanden, handelt. Gerade im Globalen Süden werden Greenfield-FDI oft benötigt, um grundlegende Infrastruktur wie Verkehrswege, Energieversorgungsnetze oder Industrieanlagen aufzubauen. Da in vielen dieser Länder die Kapitalmärkte nur schwach ausgebildet und staatliche Investitionskapazitäten häufig eingeschränkt sind, spielen Greenfield-FDI eine zentrale Rolle für die wirtschaftliche Entwicklung. Diese Form der Investition ist besonders bedeutsam: Sie bringt nicht nur Kapital ins Land, sondern fördert auch Technologietransfer, schafft Arbeitsplätze und kann das Wirtschaftswachstum nachhaltig stärken. Ein Rückgang dieser Investitionen könnte daher langfristig negative Folgen für die globale wirtschaftliche Entwicklung haben.
Trotz geopolitischer Spannungen bieten sich für einige Länder („connector countries“) auch neue Chancen. Diese Staaten – etwa Mexiko oder Vietnam – profitieren davon, dass sie als neutrale Schnittstellen zwischen geopolitischen Rivalen fungieren können (siehe z. B. Alfaro und Chor, 2023; Aiyar und Ohnsorge, 2024). Bevor wir diese Länder näher betrachten, werfen wir zunächst einen Blick auf die globale Entwicklung.
Abbildung 1 zeigt den Verlauf globaler Greenfield-FDI im Verhältnis zum weltweiten BIP von 2003 bis 2024. Wir unterteilen diese Zeit in vier Globalisierungsphasen.2 Insgesamt ist ab der globalen Finanzkrise ein Rückgang der Greenfield-Investitionen erkennbar: Von 1,95 % im Jahr 2003 sanken die Werte bis Phase 3 (2014–2018) auf rund 1 % des globalen BIP. Erst in Phase 4 (2019–2024) setzte nach dem pandemiebedingten Einbruch 2020 wieder eine leichte Erholung ein. 2023 lagen die Greenfield-FDI bei etwa 1,4 % des Welt-BIP. Dieser Anstieg trotz zunehmender geopolitischer Fragmentierung ist nur auf den ersten Blick ein Widerspruch. Er ergibt sich daraus, dass die Investitionen insgesamt zunehmen, aber auf weniger Länder oder Regionen konzentriert bleiben. Dies zeigt Abbildung 2.
Abbildung 2 zeigt, wie sich die Konzentration von Greenfield-FDI über die Zeit verändert hat. Wir verwenden den Herfindahl-Hirschmann-Index (HHI), um die Konzentration der FDI folgendermaßen zu messen: Wir berechnen den HHI sowohl für Zuflüsse (aus wie vielen Ländern kommen Greenfield-FDI in ein Land) als auch für Abflüsse (in wie viele Länder gehen Greenfield-FDI von einem Land). Ein Rückgang des HHI bedeutet eine geringere Konzentration, ein Anstieg eine höhere Konzentration. Zwischen 2003 und 2019 nahm die Konzentration tendenziell ab, d. h. die Investitionen verteilten sich auf mehr Länder. Seit 2021 jedoch steigt der HHI wieder, was auf eine stärkere geografische Konzentration von Investitionen in bestimmten Ländern hinweist, z.B. in geografisch nahegelegenen Ländern („Near-shoring“) oder in Ländern, mit denen man gemeinsame Werte teilt („Friend-shoring“). Das bedeutet, dass geopolitische Überlegungen Investitionsentscheidungen zunehmend beeinflusst haben könnten. Allerdings können wir hier noch keine Schlüsse ziehen, welche Länder und Regionen nun profitieren. Dazu gehen wir auf die bilaterale Länderebene, die unsere Daten auch bietet.
Auf Länderebene zeigt Abbildung 3 die Veränderung der bilateralen Anteile an Greenfield-FDI zwischen 2017/18 und 2023/24. Zum Beispiel sank der Anteil der Greenfield-FDI der USA in China um 10,6 %, jener des Euroraums in China um 3,1 %. Als Zielland verlor China am stärksten an Attraktivität, während Länder wie Mexiko, Vietnam, andere ASEAN-Staaten (ohne Vietnam)4, aber auch Lateinamerika und die Karibik (LAC ohne Mexiko) zulegten. Der Euroraum verzeichnete zwar geringere Zuflüsse aus den USA und LAC (ohne Mexiko), jedoch höhere Zuflüsse aus Mexiko und ASEAN (ohne Vietnam). Diese Verschiebung deutet darauf hin, dass geopolitische Fragmentierung bereits heute konkrete Auswirkungen auf Investitionsflüsse haben könnte.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Die globalen Greenfield-FDI steigen nach einem Rückgang infolge der globalen Finanzkrise und einer anschließenden Stagnation zuletzt wieder leicht, gleichzeitig nimmt ihre Konzentration zu. Das passt zur These, dass geopolitische Überlegungen eine immer größere Rolle für die Allokation von neuen Direktinvestitionen spielen. Länder wie Mexiko und Vietnam profitieren als Zielländer, während China eher verliert.
Für die Zukunft erwarten wir eine Verschärfung dieser Dynamik. Mexiko und Vietnam werden zunehmend als Alternativen zu China wahrgenommen. Dieser Trend dürfte sich fortsetzen, etwa durch den Ausbau von Produktionskapazitäten von Unternehmen, die geopolitische Risiken reduzieren wollen und daher in „connector countries“ wie Mexiko und Vietnam investieren. Neben Vietnam positionieren sich auch andere ASEAN-Länder als Drehscheibe für Greenfield-FDI. Diese Staaten könnten zunehmend Investitionen in den Bereichen Elektronik, Kommunikationstechnik oder erneuerbare Energien anziehen. Länder, bei denen ein klares geopolitisches Profil erkennbar ist, wofür sie stehen, mit wem sie kooperieren und welche Interessen sie verfolgen, könnten in Zukunft weiter profitieren, auf Kosten traditioneller Standorte wie China. Ohne eine Reduktion der gegenwärtigen Spannungen, vor allem zwischen China und den USA, ist eine Trendumkehr unwahrscheinlich. Die Ankündigung neuer Zölle durch US-Präsident Trump am 2. April, auch gegen Pinguininseln, spricht eher nicht dafür.
1) fDi markets stellt Daten zu neuen („greenfield“) FDI zur Verfügung, die auf Basis von Kommunikation von Unternehmen und/oder medialer Berichterstattung zusammengestellt werden. Die Datenbank ist ein kostenpflichtiger Service von FT Intelligence und seit kurzem für Analysen in der OeNB verfügbar. Die Daten korrelieren stark mit offiziellen Daten der Zahlungsbilanz, sowohl was Anzahl auch als Wert der Investitionen angeht (siehe z. B. Gopinath et al. 2024).
2) Phase 1 beschreibt die Hochphase der Globalisierung (Chinas Beitritt zur WTO, EU-Osterweiterung, 2003–2007), Phase 2 eine Zeit der Konsolidierung nach der Finanzkrise (2008-2013), Phase 3 die Verschärfung geopolitischer Konflikte (z. B. Besetzung der Krim durch Russland, Krieg in Syrien, Handelskonflikt China-USA, 2014–2019), Phase 4 beschreibt den Ausbrauch multipler Krisen (z. B. Pandemie, Hochinflationsphase, Energiepreiskrise, Überfall Russlands auf die Ukraine, ab 2020). Für weitere Details siehe Abeliansky et al. (2024).
3) ASEAN (Association of Southeast Asian Nations) ist eine internationale Organisation mit Sitz in Jakarta, ursprünglich von fünf Staaten der Region (Indonesien, Malaysia, Philippinen, Singapur, Thailand) gegründet: Der ursprüngliche Zweck war die wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit der Mitgliedsländer zu stärken. Die mittlerweile zehn ASEAN-Mitgliedsländer sind: Brunei Daressalam, Kambodscha, Indonesien, Laos, Malaysia, Myanmar, Philippinen, Singapur, Thailand, Vietnam.
Die zum Ausdruck gebrachten Ansichten müssen nicht zwingend mit den Ansichten der OeNB bzw. des Eurosystems übereinstimmen.